(2014) Demografische Desinformation

Der folgende Artikel ist eine Kurzfassung in Anlehnung an den taz-Artikel Nr. 10320 vom 27.01.2014, Seiten 15-16, verfasst von Gabriele Goettle, über ein Gespräch mit Dr. Gerd Bosbach, Professor für Statistik, Mathematik und empirische Wirtschafts- und Sozialforschung, FH Koblenz.

Der demografische Wandel in den nächsten Jahrzehnten wurde aufgrund von Statistiken als Notwendigkeit zum Umstrukturieren der Sozialsysteme angesehen. Die Beiträge zu Krankenkassen wurden erhöht und - was relevant für den VSZ ist - die Rentenzahlungen von Zusatz-Versorgungen wurden herabgesetzt. Entsprechende Tarifverträge wurden sogar von höchsten Gerichten abgesegnet.

Prof. Bosbach sieht die Notwendigkeit nach gründlicher Analyse jedoch anders. Bereits seit 1870 steigt die Lebenserwartung, die Geburtenrate sinkt und der Rentneranteil der Bevölkerung steigt. Bis zur Jahrtausendwende hat man sich mit der Entwicklung kaum befasst. So hat man verschlafen, dass es Mitte der 80er Jahre starke Geburtenjahrgänge gab und etwa gleichzeitig viele Lehrer in Pension gingen. Mitte der 90er Jahre trat "überraschenderweise" ein akuter Lehrermangel auf, der bei richtigem Umgang mit statistischen Daten leicht hätte vermieden werden können. Heute hält man Prognosen für 2060 für wichtiger als damals die Daten existierender Menschen!

Wegen der ab 2000 ständig geschürten Angst vor der angeblichen Überalterung der Gesellschaft hat Prof. Bosbach die Periode von 1900 bis 2000 untersucht. Die Lebenserwartung stieg um 30 Jahre, die Anzahl der Jugendlichen hat sich halbiert, die Anzahl der über 65-Jährigen hat sich mehr als verdreifacht. Nach den heutigen Ängsten hätte spätestens im Jahre 2000 ein Kollaps eintreten müssen. Was wirklich geschehen ist: Der Sozialstaat wurde ausgebaut, der Wohlstand hat zugenommen, die Arbeitszeit verkürzt, der Renteneintritt wurde vorverlegt.

Ein Fehler in den Zukunftsbetrachtungen liegt in der fehlenden Berücksichtigung der Produktivitäts-Entwicklung. Selbst bei nur 1% Wachstum pro Jahr wird die Alterung der Gesellschaft überkompensiert, wenn die Erträge des Wachstums an die Bevölkerung weitergegeben werden.

Ein weiterer Faktor ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Der Abbau der Arbeits-losigkeit erhöht nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, sondern verringert auch die Auf-wendungen für die Sozialbeiträge pro Beschäftigtem.

Ein dritter Faktor: Nicht nur die Älteren müssen durch die Erwerbsfähigen versorgt werden, sondern auch die Kinder und die Jugendlichen, letztere auch mit Kindergärten, Schulen und Universitäten. Bis 2050 steigt nach Modellrechnungen das Verhältnis der Älteren zu den Erwerbsfähigen um scheinbar katastrophale 77%, das Verhältnis der insgesamt zu Versorgenden zu den Erwerbsfähigen aber nur um 37%. Allein die Einbeziehung dieser simplen statistischen Weisheit halbiert schon die Dramatik. Und eine Umrechnung auf die jährliche Steigerung ergibt etwa 0,7%, ist also durch technischen Fortschritt leicht verkraftbar.

Die Generation, die 2050 die Nicht-Erwerbsfähigen zu versorgen hat, wird sich jedoch in einer schwierigen Lage befinden, und zwar aufgrund derzeitiger politischer Versäumnisse. Ausfallende Schulstunden, fehlende Lehrer, marode Schulgebäude, Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, überfüllte Hochschulen, Zugangsbeschränkungen usw. sind Ursachen für mögliche Probleme in der Zukunft. Die demografische Entwicklung wird zu Unrecht dafür verantwortlich gemacht.

Hier noch eine Bemerkung über die Genauigkeit langfristiger Vorhersagen. Kein großer Aufschwung, keine Krise und auch nicht zwei Weltkriege konnten in die statistische Extrapolation von 1900 bis 1950 einbezogen werden. Im Zeitraum von 1960 bis 2010 wurden nicht einbezogen: Mauerbau, Antibabypille, Gastarbeiter, Trend zur Kleinfamilie, PC, Internet, Mobiltelefon, Auflösung des Ostblocks, Ende der DDR, drei Millionen Aussiedler, diverse lokale Kriege etc. Die Statistiker sollten sich vor langfristigen Vorhersagen hüten, und die Politiker sollten die darauf beruhenden Maßnahmen nicht als "nachhaltig" verkaufen.

Zu prüfen ist auch die gezielte Nutzung vermeintlich langfristiger Vorhersagen für die Zwecke von Interessengruppen. Hier ist zunächst die Versicherungswirtschaft zu sehen, die Horrormeldungen von Rentenlücken und Altersarmut zur Schaffung und Promotion neuer Produktsparten benutzt hat, die sich inzwischen nicht nur wegen der Niedrigzinspolitik als zweifelhaft erwiesen haben. Prof. Bosbach erinnert da gerne an die durch Spekulationen der Finanzmärkte verursachte tiefe Krise der Jahre 2008 und 2009.

Auch Politiker haben Horrormeldungen zur Begründung politisch einseitiger Maßnahmen benutzt. Hierunter fallen: Einschnitte ins Sozialsystem, Einführung der Praxisgebühr, Aufgeben der paritätischen Beteiligung der Arbeitgeber an Krankenkassen-Beiträgen etc.

Das Anliegen von Prof. Bosbach ist, die "Alten" zu informieren und zum Widerstand gegen Privatisierungen bei der Rente anzuregen. Nicht nur die heutigen Älteren brauchen eine gute gesetzliche Rente gegen Altersarmut, sondern auch die heutige Jugend. Wenn diese ins Rentenalter kommt, werden sich die Versprechungen der Privatversicherer als Luftnummer erwiesen haben. Mit der weiteren Reduzierung der gesetzlichen Rente ist die Armut vieler Menschen dann garantiert.

Siehe dazu auch den Vortrag von Prof. Bosbach bei der Teleakademie: www.tele-akademie.de/begleit/video_ta120401.php

Bevölkerungsentwicklung von Gerd Bosbach. In "Schwarzbuch Deutschland – Handbuch der vermissten Information", von Gabriele Gillen/Walter van Rossum, Rowohlt, Januar 2009, Seiten 116-125